Île de Ré – Loslassen

Mythic Steps (Foto: Pat Bashford)

Was ist mein Motiv?, frage ich mich noch, doch da hat mich die Brandung schon und zieht mich hinaus in die Weite dieses wilden Wassers. Wieso gehe ich so nah ran, wenn es gefährlich wird? Warum lasse ich es nicht einfach gut sein?
„Das schaffst du nie!“, ruft mir eine Stimme nach, doch da fasst mich schon die nächste Welle und spült mich weiter hinaus. Es ist schrecklich, doch größer als der Schrecken ist da ein grandioses Gefühl der Befreiung.

So muss Sterben sein, schießt es mir noch durch den Kopf, da zieht mich etwas an den Füßen in die Tiefe und um mich herum beginnt alles zu verschwimmen. Das Letzte, woran ich mich erinnere, sind der mächtige Fangarm und das lächelnde Auge eines Riesenkrake.
Danach ist alles still, und ich bin nur noch –

Was ist mein Motiv? Nur das hallt mir nach. Eine Frage für die Stille. Für diese Insel, wo mich ein weitläufiges Anwesen schützt, das sich hinter einer bescheidenen Behausung verbirgt. Umgeben von einem wunderbaren Garten dämmre ich in meinem Pavillon vor mich hin. Es muss Mittag sein, denn es ist heiß. Doch der Schatten, den der alte Granatapfelbaum schenkt, schmeichelt meinen müden Augen. Ich fühle mich sehr erschöpft. Was ist passiert?

„Du hast Glück gehabt“, höre ich sie wieder, jene Stimme, jetzt flüsternd. „Es war gleich eine Ärztin da, als du am Strand kollabiert bist. Ein Schwächeanfall, der Kreislauf!“ Ihr Summen beruhigt mich. „Es war zu viel“, sagt sie. Ich nicke matt. Jetzt bin ich sicher, das fühle ich. Ich lebe!

Birgitt Morrien

 

PS: Zu dem Text inspiriert hat mich der Schlaganfall einer befreundeten Kollegin. Statt mich kommende Woche mit ihr zu treffen, wird sie für viele Wochen in der Reha sein. Die Nachricht hat mich sehr getroffen und betroffen gemacht.

Die Île de Ré ist ein Sehnsuchtsort, den ich liebe. Und das Zuviel loszulassen ist mehr denn je Lebensaufgabe. Auch, um glaubhaft zu bleiben gegenüber meinen Coachees, denen ich gern die Pause predige. ;-)

Der Granatapfel wird der syrischen Göttin Atargatis zugeordnet.

Literaturtipps: Wissen, was wirklich zählt (Siehe dort Textende)

 

Sinnstiftende Berufswege

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