Als Frau zu gewinnen, kostet

Alleinstellungsmerkmal (Foto: Morrien / 2021)

Wer schon als 17-Jährige einen Bestseller landet, muss a) richtig was zu sagen haben und b) sich besser warm anziehen. Helene Hegemann hat neben höchstem Kritikerlob auch brutale Häme einkassiert. Birgitt E. Morrien über die inzwischen 30-jährige Erfolgsautorin, ein Interview mit ihr und das Glück, Unglück in schöpferisches Wirken zu verwandeln.

 

DAZUGEHÖREN UND FREI SEIN

„Ich konnte erst explizit behaupten, dass ich auf Frauen stehe, nachdem ich mich mit 18 zum ersten Mal in einen Mann verliebt hatte und es als denkbar empfand, mit ihnen ein Leben zu verbringen. Weil ich das tiefe Gefühl des Teilhabens am Regulären hatte, konnte ich mich wegbewegen. Das war ein Befreiungsmoment, wenn auch kein besonders ritterlicher. (…)

2015 waren lesbische Europäerinnen unter 40 noch nicht so en vogue wie heute. Kann morgen auch wieder anders sein. Als junger Teenager habe ich es als absolut nicht einfach empfunden, lesbisch zu sein. Dafür, dass ich mich in sehr freien Kulturkontexten bewegte, brauchte ich lange, um das leben zu können“, so Helene Hegemann im SZ-Interview.*

 

JUNG UND BANGE

Aha, U40-Lesben mögen angesagt sein (wie übrigens U30-Frauen überhaupt). Älterwerden allerdings ist in einer patriarchalen Struktur besonders für Frauen immer ein Abenteuer. Die Fallstricke lauern überall. Nehmen wir nur die Medien:

„Beauty-Magazine sind eine implizite Aufforderung zur Selbstzerstörung. Wenn man zwei Stunden bei der Nagelmodellage sitzt, hat man keine Hand frei, um Zeitung oder Simone de Beauvoir zu lesen. Männer arbeiten in der Zeit oder treffen ihre Geliebte. Das halte ich für sehr viel erfüllender.“ (ebd.)

Sind solche Beauty-Zerrbilder von Frausein, in ihrer Allgegenwärtigkeit diktatorisch anmutend, der Grund dafür, dass „gerade eine ganze Generation mit einem Bein in der Klapse (steht)? Das sind keine individualpsychologischen Probleme, das ist ein gesellschaftliches Phänomen.“ (ebd.)

„Es gibt kaum noch junge, und in der Öffentlichkeit stehende, kreative Frauen, die die Dokumentation ihrer Psychiatrieaufenthalte auf Instagram nicht zu ihrer eigentlichen Existenzgrundlage gemacht haben.“ (ebd.)

 

REIF UND RITTERLICH

Wo Jungsein (wenngleich in den Medien für Mädchen und Frauen sehr zwiespältig) goutiert wird, erscheint Ritterlichkeit als Privileg meiner Generation. Mit meinen 62 Jahren muss ich mich als lesbisch lebende Frau auf die alten Tage nicht doch noch auf leichtere Fahrwasser umstellen.

Das ist o. k., denn dank viel Gegenwind in meinem Leben bin ich jetzt da, wo ich bin, gut aufgehoben. Die Bewältigung vielfältiger Herausforderungen hat mich geprägt und vor allem gelehrt, dass über persönliche Unterstützung hinaus kompetente professionelle Hilfe zählt, um am Ende zu reüssieren.

„Der italienische Theoretiker Franco Berardi hält Therapie sogar für den einzigen politischen Akt, der einem Bürger unter der Finanzdiktatur noch geblieben ist. Das ist keine Ego-Nummer. (…) man findet aus dem Sud heraus und wird sich seiner Handlungsfähigkeit bewusst. Das hat etwas Rebellisches, wirklich.“ (ebd.)

Die schwere Kindheit von Helene Hegemann endete mit dem frühen Tod der materiell armen und psychisch kranken Mutter, die als Hartz-IV-Empfängerin alleinerziehend war. Erst mit dem Umzug in das Lebens- und Wirkungsfeld des Vaters, eines bekannten Theaterdramaturgen, war der Rahmen für ihre schöpferische Entwicklung in vollkommen neuer Art und Weise gegeben.

 

UN/GLÜCK UND AUFGABE

Es sind vor allem jene oft sehr fordernden Erfahrungen, die einmal bewältigt, bearbeitet und integriert, das Kapital bilden, aus dem sich sinnstiftende berufliche Aufgaben entwickeln lassen. Diese folgen der eigenen Bestimmung mehr denn den Verheißungen einer Zeit, die durch Statusversprechungen aller Art in andere Richtungen verführt – meist um den Preis der Selbstverleugnung, dem zunächst der Selbstverlust folgt, dann die Verzweiflung.

Hegemann hatte Glück im Unglück: Sie besaß die Kraft, von Kindheit an darum zu ringen, ihrem großen Potenzial gemäß zu leben. So schaffte sie es 17-jährig als Erfolgsautorin mit „Axolotl Roadkill“ auf die Spiegel-Bestsellerliste. Ihr Debüt wurde zugleich in höchsten Tönen gelobt und unfassbar brutal zerrissen. „Spielte da (bei so manchem Kritiker) doch unbewusster Sexismus mit?“, wirft Hegemann als Frage auf. Wie auch immer, diese gewaltsam anmutende Häme musste sie aushalten und ging anschließend durch eine Phase, in der ihr das Schreiben unerträglich wurde.

Jahre später hat sie sich wieder aufgerichtet und das hilflose „letzte Aufbäumen weißer, älterer Kritiker, die um ihre Deutungshoheit bangten“, hinter sich gelassen. Jenes Aufbäumen, das die ZEIT-Kritikerin Iris Radisch als Motiv für den Hass auf das Frühwerk der Autorin ausmachte. Gerade erscheint mit „Schlachtensee“ das neueste Werk der Autorin. Sie hat es einmal mehr geschafft, das Leid zu transformieren: „Nichts macht mich glücklicher als eine gute, klare Sprache für das Unglück.“ (ebd.)

 

HILFE UND DANKBARKEIT

Ich selbst darf mich glücklich schätzen, seit 25 Jahren als Coach unterstützend wirken zu dürfen, was ich als sehr erfüllend erlebe. Dazu zu forschen und über meine Beratungserfahrungen zu schreiben, begeistert mich außerdem.

„Für Erlösung bräuchte man ein Gegenüber, eine Geschichte, die man sich zu zweit erzählt“ (ebd.).

In der Therapie, aber auch im Coaching, kann ein Raum des Vertrauens entstehen, der sich mitzuteilen in ganz neuer Weise ermöglicht. Belastende (Schreckens-)Geschichten verlieren so ihren Bann, was Blockaden löst und heilend wirkt. Auf dieser Grundlage lässt sich besser arbeiten, an welcher persönlichen Frage und beruflichen Perspektive auch immer.

Ich erlebe es als großes Geschenk, nach eigener ganzheitlicher DreamGuidance-Methode sinnstiftend wirken zu dürfen.

Schließlich bin ich mir durchaus meiner Privilegien etwa als normschlanke, weiße, nichtbehinderte Frau bewusst, der zudem – dank sozialdemokratischer Bildungspolitik – der Sprung vom verarmten westfälischen Uradel in die bildungsbürgerliche Kaste gelingen konnte. Als Zugewanderte bleibe ich mir jedoch zugleich der Ausnahme bewusst, die ich hier darstelle.

Für das Alter bin ich gut ausgestattet, zumal seit 33 Jahren in bester Begleitung. Für mich gibt es viele Gründe, sehr dankbar zu sein — und das bin ich, jeden Tag. Dies ist die Quelle, aus der ich für meinen Auftrag schöpfe.

 

 

* „Wer sich für seinen Körper schämt, organisiert keinen Aufstand“. Helene Hegemann interviewt von Sven Michaelsen in der Süddeutschen Zeitung.

 

 

 

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