Die Ei-Connection — Was neues Leben kostet

Schnee-Ei mit Visage (Foto: Roland #Brus, Wuppertal)

Das Küken kann erst schlüpfen, wenn seine Welt zerbricht

Am 10. Dezember ist er gestorben, Josef, der alte Landwirt, den ich sehr geschätzt habe. Wie oft war ich in den vergangenen Jahren Gast in der von ihm gebauten kleinen Kapelle. Auf dem eigenen Hof angelegt, genau dort, wo über tausend Jahre lang ein entsprechender Vorgängerbau gestanden hatte. Dieser war jedoch durch die Wirren eines früheren Krieges verfallen, sodass von dessen Existenz lange niemand mehr wusste.

Besondere Orte finden

Josef hatte den ursprünglichen Standort mit seiner Wünschelrute ausfindig gemacht. Gesucht hatte er den Ort nicht, eher zufällig gefunden und dann durch Recherchen im ortseigenen Kirchenarchiv von der früheren Kapelle erfahren. Ein uralter Marienwallfahrtsort, wohin die Menschen aus dem Umland über Jahrhunderte gepilgert waren. Um sich dort – so wie ich – Wasser zu holen, angereichert durch die besondere Qualität der dortigen Erdstrahlung.

Hokuspokus, sagen die einen, er aber, der frühere Unternehmer, Pionier in Sachen Hühnerzüchtung, war zu bodenständig, um abgehoben zu sein. Nach seinerzeit neuesten, revolutionären Vorstellungen baute er als jüngerer Mann eine Hühnerfarm auf, die ihm und seiner Familie Wohlstand brachte. Bis in seine mittleren Sechziger war er bekannt als grundsolider, konservativer und eben auch sehr erfolgreicher Landwirt.

Wendepunkt eröffnet neue Aufgaben

Dann wurde er schwer krank. Bald gab man ihn als unheilbar auf, Grund zur Hoffnung sah niemand mehr – außer der auf ein Wunder. Und genau das stellte sich ein, als es ihm gelang, den in sich selbst bis dahin verschütteten Zugang zu seinen – und womöglich uns allen – eigenen heilerischen Kräften freizulegen. Er genas vollkommen und stellte sich beherzt von Stund an in den Dienst des Heilens. Unterstützt durch die strahlende Kraft des besonderen Ortes.

Der Unternehmer hatte sich kurzerhand zum Heiler gewandelt. Wie das Dorf diesen Wandel aufnahm, ist mir nicht bekannt. Ob wohlwollend oder misstrauisch, vermutlich beides und nicht so wichtig, denn er hatte sich längst entschieden, diesen Weg zu gehen. Pionier war er ja schon einmal gewesen. So fand er sich nun als Betreiber einer eigenen kleinen religiösen Wirkstätte wieder, wo wunderbares Wasser und seelische Stärkung gleichermaßen gegen Spende abzuholen möglich war.

Einkünfte waren das, die der Kapellenpflege dienten und so manchem karitativem Zweck weltweit zugutekamen. Gemeinsam mit seiner Frau Maria hielt er diesen besonderen Ort für alle offen: Sie kamen teils von weit her, um seinen Rat einzuholen. Ich war eine unter ihnen und weiß von Bekannten und Freund:innen, dass sie die vielfach wirksame Hilfe seiner heilenden Hände in Anspruch nahmen. Diesen Dienst versah Josef in den letzten zwanzig Jahren seines Lebens. Da lag die fabrikmäßige Eierproduktion längst hinter ihm.

Werden und Vergehen

Als er im Dezember im Sterben lag, war ich selbst vollkommen absorbiert von den Vorbereitungen zu einer Kunstkampagne, in deren Zentrum ein Riesenei stand, das es vor dem Kölner Dom aufzustellen gilt. Als eine benachbarte Freundin mir von seinem Ableben berichtete, war ich zwar sofort sehr betroffen, doch konnte das Gefühl der Trauer in jenem Moment nicht wirklich zu mir durchdringen. Wie so oft im Leben, wenn eine besondere Aufgabe alle unsere Kraft beansprucht und wir so vieles andere, das uns sonst noch fordern will, auf später verschieben müssen.

So stehe ich also erst vergangene Woche, genau einen Monat nach seinem Tod, in der Küche vor unserem Kühlschrank, auf dem zur Erinnerung an ihn seine Visitenkarte liegt neben einer Kerze. Und erst da nehme ich nach all den vielen Jahren wahr, was das Symbol auf seiner Karte eigentlich darstellt. Es zeigt ein Ei, das allerdings die ganze Welt in sich birgt, überzogen von Gitternetzen, die stellenweise etwas über den Eirand hinausweisen.

Verbindungen wahrnehmen

Mich schaudert, denn ich fühle mich dem alten Hühnerfarmer plötzlich auf eine ganz besondere Art seelisch verbunden. Während er sich also auf seinen Tod vorbereitete, hatte ich die Eingebung, ein Riesenei vor den Dom zu legen. Lange vor mir war ihm natürlich (!!!) die lebensbergende Bedeutung des Eis in vollem Umfang bewusst gewesen. Gleich den ganzen Globus hatte der Alte in das kleine Ei gepackt — oder dort entdeckt?

Wie traurig ich plötzlich war, wissend, dass ich ihn nun nicht mehr nach den genaueren Umständen würde befragen können, die ihn seinerzeit dazu bewogen hatten, das Ei in dieser Weise als Symbol für seine Arbeit zu wählen. Und doch ist es mir, als antworte er mir – wie schon zu Lebzeiten knapp – auf diese Frage:

Durfte sich das doch eigentlich sehr kleine Ei in mir so groß denken, so bedeutsam, dass es schon vorgeburtlich als spektakuläres Riesenei durch die Medien des deutschsprachigen Europas geistert? „Jo, passt!“, sagt er und legt seine Hände auf die müden Knie. Mehr sagt er nicht. Genug für mich, um froh zu sein über seine Zustimmung. Erleichtert.

 

Kommentar

Bühne frei fürs Ei

Nun bin ich doch erstaunt darüber, dass Sie mit dem Kapellenmann Josef ausgerechnet Kirchenpersonal um den Segen für Ihr Vorhaben bitten. Da hätte ich Ihnen weiß Gott mehr Selbstbewusstsein zugetraut!

Oder glauben Sie etwa, es hätte auch nur ein einziger Baumeister gängiger Architektur bei der Gottesmutter um Erlaubnis dafür gebeten, einmal mehr seinen steinernen Phallus aufzurichten, inzwischen gleich Hunderte Meter hoch?

Die Welt steht voll von Türmen dieser Art. Warum man sich (insbesondere seitens der katholischen Kirche) über ein Ei am Dom, sei es auch noch so riesig, derart aufregt, stimmt mich doch sehr nachdenklich. Es wirft in mir die Frage danach auf, wovor man sich da offenbar so fürchtet oder gar fürchten muss?

Vielleicht ist es genau das, wovor Sie sich ja offenbar selbst auch fürchten – vor der plötzlichen Erkenntnis großer Eigenmacht, die zu fühlen man den Weibern allerdings über die Jahrtausende ordentlich ausgetrieben hat.

Sollte es so sein, wie Archäolog:innen behaupten, dass in sehr früher Zeit einmal die Frauen das Sagen hatten, dann wird es Zeit, dass es wieder so ist. Denn aus dieser matrilinearen Epoche ist kein Kriegsgerät überliefert. Und dies nun ist genau der Punkt, warum ich Ihr Ansinnen so großartig und wichtig finde.

Im Ei wächst eine neue, lebensbejahende Epoche des Miteinanders heran. Dazu gibt es ja überhaupt auch gar keine Alternative. Denn vorauszudenken, wohin uns die gängige Lebenswirklichkeit führt, dazu braucht es kein Abitur.

Für Ihr Vorhaben wünsche ich Ihnen alles nur erdenklich Gute, viel Erfolg und viel wirksame Unterstützung, die die notorischen Bedenkenträger:innen und Ewiggestrigen einem erfrischenden (Vor-)Frühlingswind gleich vom Parkett fegt. Bühne frei für das Ei!

Matheo Ganther, Historiker

 

Anmerkung der Autorin / Coaching-/ Künstlerin Birgitt Morrien:

Vermutlich hat der Kommentator vollkommen recht und ich fürchte mich tatsächlich selbst davor, in den Spiegel dieser Kreation zu schauen. Die Erklärung hat der Historiker ja gleich mitgeliefert.

Unrecht hat er jedoch mit dem Kapellenmann, der ganz und gar kein Kirchenpersonal war. Eher ein mystischer Geist, also frei, und in diesem Punkt seiner Kirche fremd.

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