Das aktuelle Zeitgefühl: Hoher Leistungsdruck bei zeitgleicher Sprachlosigkeit
In diesen Wochen fühlen wir uns von tausend Fragen bedrängt. Sie umschwirren uns, und wir wissen uns ihrer vielfach kaum zu erwehren. Wir wollen etwas sagen zur allgemeinen Situation, aber es fehlen uns die Worte. Was gerade geschieht, ist uns unbegreiflich und so fehlt uns dafür jeder Begriff.
Wenn im Außen nicht zu finden ist, was wir so dringend brauchen, bleibt uns nur das Innen. Uns zeitweilig von der Welt abzuwenden, kann uns Begegnungen vollkommen neuer Art eröffnen. Wie dort Antworten zu finden sind, berichten uns buchstäblich weggesperrte (historische) Persönlichkeiten, oft wortgewandt.
Um jedoch von Menschen zu lernen, die sich in besonderer Weise verdient gemacht haben, tut es gut, sich zunächst von deren Mystifizierung zu befreien. Erst dann erkennen wir, wer diese Persönlichkeiten wirklich sind und was sie uns zu sagen haben.
Womöglich verübeln wir es ihnen dann nicht so schnell, sollten wir erfahren, dass wir es durchaus auch mit widersprüchlichen, schwierigen, mitunter gar ungerechten und selbstbezogenen Wesen zu tun haben. Vielleicht können wir sogar leichter das Beste von ihnen annehmen, gerade weil sie „nur Menschen“ sind, darin uns selbst ähnlich.
Drei Beispiele, sämtlich ausgezeichnet durch Hafterfahrung:
I.
Luise Rinser: Gefängnistagebuch
Vom 22. Oktober bis zum 21. Dezember 1944 reichen die Aufzeichnungen, die Luise Rinser heimlich in der Zelle eines nationalsozialistischen Frauengefängnisses gemacht hat, während in Berlin ein Prozeß wegen Hochverrats gegen sie lief. Sie beschreibt, was sie beobachtet und am eigenen Leibe erfahren hat. Ihr Bericht ist Anklage, für die jedoch, die das Regime der Gewalt nicht bewußt erlebt haben, ein Dokument.
Im September 1944 wurde sie wegen „Wehrkraftzersetzung“ in Traunstein inhaftiert. Eine verzweifelte Bekannte hatte Luise Rinser von der Sorge um ihren Mann, einen Wehrmachtsoffizier, berichtet. Rinser empfahl, dass sich der Mann nicht mehr an den Kriegshandlungen beteiligen und untertauchen solle. Einen Brief seiner Frau mit entsprechendem Inhalt verwendete der Offizier jedoch, um Luise Rinser zu denunzieren.
Sie erhielt schon im Dezember 1944 Hafturlaub, zu einem direkten Prozess gegen sie vor dem Volksgerichtshof kam es nicht mehr. Ihre Gerichtsunterlagen gingen in den Wirren am Kriegsende verloren. In ihrer Biographie schrieb Rinser hingegen von einem Todesurteil und einer Hochverratsanklage sowie von bereits länger andauernder Verfolgung durch die Gestapo, die nicht belegbar ist. Über ihre Haftzeit berichtete sie in ihrem »Gefängnistagebuch«, das 1946 erschien.
Heute fürchte ich nichts,
heute zeige ich mich
freimütig schutzlos dem Tag
und wage, mich zu freuen,
weil ich lebe,
weil ich auf eine Art lebe,
die nur ich weiß und kann,
ein Leben unter Milliarden,
aber das meine, das etwas sagt,
was kein anderer sagen kann.
Das Einmalige eines jeden Lebens.
Es macht heiter, zu wissen,
das jeder recht hat mit sich selbst.
Schön ist es älter zu werden,
erlöst von sich selbst,
von der gewaltigen Anstrengung
„etwas zu werden“,
etwas darzustellen in dieser Welt,
gelassen sich einzufügen
irgendwo, wo gerade Platz ist
und überall man selbst zu sein
und zugleich weiter nichts
als einer von Milliarden.
Luise Rinser
Luise Rinser, 1911 in Pitzling in Oberbayern geboren, war eine der meistgelesenen und bedeutendsten deutschen Autorinnen nicht nur der Nachkriegszeit. Ihr erstes Buch, ›Die gläsernen Ringe‹, erschien 1941 bei S. Fischer. 1946 folgte ›Gefängnistagebuch‹, 1948 die Erzählung ›Jan Lobel aus Warschau‹. Danach die beiden Nina-Romane ›Mitte des Lebens‹ und ›Abenteuer der Tugend‹. Waches und aktives Interesse an menschlichen Schicksalen wie an politischen Ereignissen prägen vor allem ihre Tagebuchaufzeichnungen.
1981 erschien der erste Band der Autobiographie, ›Den Wolf umarmen‹. Spätere Romane: ›Der schwarze Esel‹ (1974), ›Mirjam‹ (1983), ›Silberschuld‹ (1987) und ›Abaelards Liebe‹ (1991). Der zweite Band der Autobiographie, ›Saturn auf der Sonne‹, erschien 1994. Luise Rinser erhielt zahlreiche Preise. Sie ist 2002 in München gestorben.
Luise Rinser: Gefängnistagebuch. Fischer-Taschenbuch-Verlag, Frankfurt/M
José Sánchez de Murillo: Luise Rinser – Ein Leben in Widersprüchen (S. Fischer, Frankfurt/M. 464 S., Euro 22,95)
II.
Ingrid Strobl: Vermessene Zeit: Der Wecker, der Knast und ich
Persönlicher Bericht über drei Jahre im Gefängnis
Im Dezember 1987 wird Ingrid Strobl, Journalistin und Autorin, in ihrer Kölner Wohnung festgenommen, nach §129a StGB – Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung. Sie hatte einen Wecker der Marke Emes Sonochron gekauft, für einen Bekannten, wie sie sagte, der sie darum gebeten hatte. Dieser Wecker wurde als Zeitzünder bei einem Sprengstoffanschlag der »Revolutionären Zellen« auf ein Lufthansagebäude verwendet, bei dem ein Sachschaden entstand. Mit dem Anschlag wurde gegen die Abschiebepraxis von Asylsuchenden protestiert, was Ingrid Strobl befürwortete.
Sie weigert sich, den Namen des Bekannten zu nennen, und bleibt in Untersuchungshaft. Im Gefängnis lernt sie eine ihr völlig fremde Welt kennen, eine Welt von Schmerz und Sucht, von Wut und Unterwerfung. Kraft zieht sie vor allem aus der Arbeit an einem Buch über Widerstand von Frauen im deutsch besetzten Europa*, an dem sie schon vor ihrer Verhaftung gearbeitet hatte.
Im Juni 1989 wird sie zu fünf Jahren Haft verurteilt. Nachdem der Bundesgerichtshof das Urteil zunächst aufgehoben hat, wird Ingrid Strobl in der Revisionsverhandlung 1990 schließlich wegen Beihilfe zu einem Sprengstoffanschlag zu drei Jahren Haft verurteilt.
Dreißig Jahre später reflektiert Ingrid Strobl in diesem sehr persönlichen Buch über das Leben im Gefängnis, politischen Aktivismus von Frauen und individuelle Verantwortung. Dabei fragt sie auch nach der Legitimation von Widerstand und Gewalt.
Strobls Text hat zwei (Zeit-)Ebenen, die auch im Buch typografisch abgesetzt sind. Zum einen den Aufenthalt im Gefängnis, wobei seltsamerweise unklar bleibt, wann sie diese Passagen geschrieben hat (im Gefängnis, kurz danach, später?). Hier erzählt sie z.B. aus dem «Alltag» im Gefängnis, ihre Versuche, ihre Integrität zu bewahren, über störenden Lärm, solidarische Mitgefangene und die Beklemmungen bei persönlichen Besuchen.
Der zweite Strang sind dann die ebenso persönlichen Reflektionen in der Gegenwart darüber, 30 Jahre später: Wer war ich 1987? Trügt mich meine Erinnerung? Waren meine politischen Einstellungen (damals) «falsch»? Die Begegnungen im Frauenknast lösen eine Überprüfung, wenn nicht Revision ihres feministischen Weltbildes aus. Sie erfährt, dass viele Frauen die patriarchale Unterwerfung und die eigene Passivität so verinnerlicht haben, dass ein Ausbrechen daraus kaum möglich ist.
Ein inneres Gegengewicht sind für sie in diesen langen Monaten Yoga, (klassische) Musik, Lektüre, und der Gedanke an den Mut der Partisaninnen, die sie im Zuge ihrer Recherchen über den Widerstand in Europa gegen den deutschen Nationalsozialismus getroffen hat.
Ingrid Strobl: Vermessene Zeit. Der Wecker, der Knast und ich, Edition Nautilus, Hamburg 2020, 978-3-96054-228-5, 192 Seiten, 18 EUR
Ingrid Strobl im Interview: Ich will einfach nicht mehr mit einer Lüge leben
Ingrid Strobl, geboren 1952 in Innsbruck, Studium in Innsbruck und Wien. Dissertation über »Rhetorik im Dritten Reich«. Seit 1977 freiberufliche Tätigkeit beim ORF, Redakteurin bei EMMA, danach freie Buch-, TV- und Hörfunkautorin u.a. für WDR und SWR. Zahlreiche Buchveröffentlichungen. In Haft von 1987 bis 1990. Währenddessen Herausgabe eines Sammelbandes mit eigenen Texten zu Frauen, Politik, Literatur und Kunst sowie Fertigstellung des Bandes Die Angst kam erst danach. Frauen im bewaffneten Widerstand gegen Faschismus und deutsche Besatzung. Heute lebt Ingrid Strobl als freie Journalistin in Köln.
III.
Mahatma Gandhi
Gegen Unrecht und Rassismus
Auf einer Bahnfahrt durch Südafrika, begann dann Gandhis Einsatz für die vorbehaltlose Gleichberechtigung aller Menschen. Obwohl er als Rechtsanwalt eine durchaus privilegierte Position inne hatte, bekam er die Demütigung durch die Weißen am eigenen Leib zu spüren. Von da an kämpfte Gandhi für die Rechte der eingewanderten Inder und blieb 21 Jahre lang in Südafrika. Dort entwickelte er die Prinzipien des Satjagraha, des unbedingten Festhaltens an der Wahrheit und des gewaltfreien Widerstands.
Von 1914 an rief er in Indien die Bevölkerung zum passiven Widerstand gegen die Engländer auf. Gandhis Prinzipien bildeten die Voraussetzungen für den Kampf der indischen Bevölkerung um ihre Unabhängigkeit vom British Commonwealth. Für gezielte Gesetzesübertretungen nahmen Gandhi und seine Mitstreiter bewusst Haftstrafen in Kauf;
Sein bekanntester Aufmarsch und, der mit Sicherheit am wirksamsten gewesene, fand 1930 statt. Gandhi rief zum Salzmarsch auf und forderte die Regierung damit, die eingeführte Steuer für das Nahrungsmittel abzuschaffen. Er lief 385 Kilometer und unterwegs schlossen sich immer mehr Inder an. Es wurden mehrere Tausend. Die Inder setzten damit am Ende ihren Willen durch, die Steuer verschwand und Gandhi wurde von der britischen Regierung nach London geladen.
Gandhi verbrachte insgesamt 2089 Tage seines Lebens in Gefängnissen.
Während des zweiten Weltkriegs (1939-1945) besetzten dann Japaner das Land. Gandhi saß währenddessen im Gefängnis und musste sich in Zurückhaltung üben. Sein Volk aber hatte von seiner Art gelernt und verübte Aktionen nach seinem Vorbild.
Im Gefängnis wurde er erstmalig von Schriften Leo Tolstois inspiriert, der sich ebenfalls intensiv mit dem passiven Widerstand beschäftigte. Von ihm wurde Gandhi stark beeinflusst und er nannte seinen ersten Ashram im Jahre 1910 „Tolstoi-Farm“. Gandhi blieb nach seiner Freilassung noch bis 1915 in Südafrika und organisierte dort fortlaufend passive Widerstände – er kam insgesamt achtmal ins Gefängnis.
Arundhati Roy ergänzend über Widersprüche im Leben Gandhis:
Er schrieb mit einem schockierenden Ausmaß von Verachtung über schwarze Afrikaner, indische Leibeigene, Unberührbare, Arbeiter und Frauen. Die längste Zeit seiner 20 Jahre in Südafrika hat er damit verbracht, um die Freundschaft des weißen Regimes zu werben, bis hin zur Erklärung, er wünsche sich eine “imperiale Brüderschaft” mit den Briten.
Der springende Punkt ist: Gandhis Doktrin der Gewaltlosigkeit ruht auf einem Fundament von dauernder, brutaler, extremer Gewalt – denn das ist das Kastensystem. Es kann ohne die Androhung und Anwendung von Gewalt nicht aufrechterhalten werden. Selbst heute noch laufen Dalits, die den Status quo infrage zu stellen wagen, Gefahr, einem regelrechten Ritualmord zum Opfer zu fallen.
Es gab Massenproteste gegen die grauenhafte Gruppenvergewaltigung und Ermordung einer jungen Frau in einem Bus in Delhi im Dezember 2012. Im selben Jahr wurden 1500 Dalit-Frauen von Männern aus höheren Kasten vergewaltigt, und 650 Dalits wurden ermordet. Das gelangt kaum in die Nachrichten.
Berufliche Perspektiven:
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