Leben auf der Kreuzung
Die Sonne strahlt, der Kaffee schmeckt prima, den ich gerade genieße im Angesicht einer alten Kirche, auf einer kleinen Straßeninsel sitzend inmitten eines Wegekreuzes: Vier verschiedene Richtungen tun sich mir hier auf, und ich überlege gerade, in welche ich gleich weiterradeln werde.
So fühlt sich momentan meine ganze Situation an. Wie immer, wenn sich das Leben radikal verändert, fallen mir hundert Dinge ein, die jetzt zu tun mir möglich wären. Und wie immer hier angelangt, erweist sich das Privileg der Ideenreichen zugleich als fortlaufender Entscheidungsnotstand, stellt sich sogleich die Frage danach, welcher Spur jetzt folgen …
Jenseits der Zeiten, die ich (online) im Coaching mit meinen Klient*innen verbringe, mäandere ich aktuell so dahin. Ich schreibe mal hier etwas, konzipiere da etwas und berate mich mit inspirierenden Zeitgenossen – virtuell oder aber vor Ort mit dem gebührenden Abstand im Raum, versteht sich.
Die nähere Zukunft
Sollten die identifizierbar Infizierten und die Alten nach Pfingsten isoliert werden, weil die Zahl der Neuinfektionen sich nicht bändigen lässt, die Wirtschaft aber auch nicht länger darniederliegen darf, dann bin ich mit meinen 60 Lebensjahren** womöglich auch dabei.
Zwar kann ich die Logik nachvollziehen, die sich da auftut. Mehr noch bin ich mit einem solchen Vorgehen ggf. einverstanden, weil es vernünftiger ist, „wenige“ zu isolieren statt die ganze Gesellschaft. Doch würde das tatsächlich wirtschaftlich für mich zu früh kommen. Noch habe ich nicht ausgesorgt.
Nun ja, würden wir unsere Altersvorsorge* als Selbstständige monetarisieren, würde uns das vermutlich bis ans Ende tragen. Doch war es so nicht gedacht. Aber nicht immer geht es danach, wie wir uns die Dinge denken.
Ich denke sehr grundsätzlich in diesen Tagen. Das stärkt meine Dankbarkeit: 60 Jahre durfte ich schon satt und zufrieden leben, eingedenk aller persönlichen und beruflichen Herausforderungen, die es immer wieder mal gab. Aber ohne Krieg, wie noch meine Eltern, immer versorgt bzw. in der Lage, mich selbst zu versorgen.
Sollte mich das Virus tatsächlich dahinraffen, wäre ich schon jetzt 20 Jahre älter geworden als mein Vater und einer meiner Brüder. Und ohnehin ist die Aussicht aufs Ende mit 60 nicht mehr so leicht auszublenden. Zwar tauche ich wie eine 40-Jährige immer mal wieder in den Modus großer Geschäftigkeit, schillernden Illusionen gleich.
Dass ich nicht alles kontrollieren kann, geschweige denn mein Ende, schwant mir immer häufiger. Wirklich wahrhaben will ich es nicht, noch immer darum bemüht, mir ewiges Leben vorzugaukeln, endlose Schaffenskraft.
Aufgeweckt durch Erschütterung
Wenn die Kontrolle versagt, schlägt die Stunde der Krise. Und da ich mich Zeit meines Lebens dem Studium der Crisis verschrieben habe, den Wechselfällen des Lebens, darf ich jetzt zeigen, was ich draufhabe. Nicht nur in der Theorie, nicht nur als Ratgebende und (Be-)Lehrende, sondern in der Praxis des kollektiv nicht richtig Weiterwissens, wie jetzt: Wohin? Und wann den ersten Schritt dahin wagen?
Das Vertrauen in die Zyklen des Lebens, geprüft durch familiäre Schicksalsschläge und berufliche Umbrüche, von denen ich seit 25 Jahren im Coaching rede, darf sich jetzt beweisen – darf sich jetzt unter wiederum ganz neuen Vorzeichen als tragfähig erweisen.
Und dass die Dinge auch diesmal wieder nur Schritt für Schritt gehen, weiß ich, auch, dass sie manchmal hüpfen oder stolpern, sich ein Bein brechen, wenn nicht gar den Hals. Nur war es bisher nicht der eigene Hals. Und ich hoffe, noch ein Weilchen mitzuspielen, im besten Sinne dienlich. Mut zu machen, dessen auch ich selbst immer wieder sehr bedarf.
Erinnerung aus der Zukunft
Noch unter allen Umständen hat mir eine grundlegende Erinnerung oft geholfen. Wie ich es mit allen Klient*innen halte, so auch mit mir selbst. Einmal machen alle die Erfahrung, sich ihres Lebens aus der Sicht des alten Menschen zu erinnern. Die alte Frau, die ich sein werde, hat sich auf dieser geistigen Reise, die ich P/Review nenne, daran erinnert, was sie in den verschiedenen Zeiten ihres Lebens wirklich glücklich gemacht hat. Was auch immer es in meinem Leben war, es waren Glücksmomente, die bis ins hohe Alter reichen.
Folge ich dieser Vorgabe, bin ich also in diesem Sinne gläubig, kann ich ruhigen Herzens weitergehen und wissen, dass ich auch weiterhin allen Herausforderungen gewachsen sein werde. Auch denen der aktuellen Coronakrise.
Mein Credo in Zeiten von Corona
Zwar gibt es eine Langzeit-Forschungsstudie mit 80 meiner Klient*innen, die wissenschaftlich nachweist, dass meine DreamGuidance-Methode funktioniert. Doch kann ich niemandem, auch nicht mir selbst, die Aufgabe abnehmen, daran zu glauben.
Da aber der fromme Glaube eine hohe Disziplin ist, was alle Religionen*** wissen und drum Gebote formuliert haben, die fleißig nachzusprechen sind, arbeite auch ich mit dem mächtigen Instrument des Credos. Dieses sehr persönliche Glaubensbekenntnis variiert von Person zu Person, da individuell entwickelt auf der Grundlage der persönlichen Vision, durch die Erinnerungsreise des alten Menschen freigelegt.
Kompromisslos ist das Credo aller meiner Coachees und auch mein eigenes. Denn es folgt den Einsichten des alten Menschen, der sich erlaubt, die Dinge endlich so zu sehen, wie sie wirklich sind. Auch und gerade im Rückblick. Oft sind es da nicht die großen Erfolge, eher die kleinen Momente, die das Geschenk dieses kostbarsten Gutes bringen: das Glück, friedlich mit anderen Menschen zu sein, das Gemeinsame, festlich, feiernd.
Durch Demut zu neuem Erfolg
Die Chance, die sich uns jetzt und in Zukunft bietet, lässt sich nur dann erkennen und nutzen, wenn ich wachen Sinnes bin. Doch stellt sich dieser wache Sinn umfassend erst ein im Zustand der Gelassenheit. Fraglos ein Privileg gläubiger Menschen. Denken wir nur an den Dalai-Lama.
Das erklärt, warum ich seit jeher alle meine Klientinnen und Klienten gewissermaßen ins fortdauernde Gebet bringe. Auch mich selbst. Die Krise ist dafür ein günstiger Moment, denn außer dem Credo ist da nicht viel, das uns Halt geben könnte.
Kraft unseres beständig erinnerten Credos schaffen wir uns eine vollkommen neue Haltung uns selbst und dem Leben gegenüber, erschaffen wir uns unsere Wirklichkeit neu — nun im Sinne unserer ureigensten Absichten.
Und da auch die Kirchen zurzeit geschlossen sind, dürfen nun die Glaubenswilligen ihrem eigenen Credo folgen, dem Besten, was ihnen mitgegeben wurde. Dem Glauben an sich selbst als Teil dieses großartigen Lebens.
*Altersvorsorge durch Optionen, die Selbstständige und Freiberuflerinnen dafür mitunter nutzen, wozu allgemein etwa Aktien, Derivate, Immobilien, Versicherungen und Rücklagen zählen. Wie das gut geht, kann ich von meinem Kusin Rolf Morrien lernen, der als Finanzexperte Bücher schreibt und sich als Anlageberater verdingt hat.
**Unter den “5 Corona-Szenarien für Deutschlands Zukunft”, die (etwa) der Zukunftsforscher Sven Gábor Jánszky entwirft, findet sich auch ein neuer Generationenvertrag. Dieser sieht u.a. die komplette Isolierung der Bevölkerung über 60 Jahre für einen Zeitraum von etwas drei Monaten in ihren Häusern vor, aber gleichzeitig das langsame Auflösen der Einschränkungen für die Menschen bis 60 zwischen Ende Mai und Ende Juni. Eine interessante Vorstellung, Ursula von der Leyen (61) und Joe Kaeser (62) mit mir gleichermaßen daheim zu wissen. Oder gibt es Ausnahmen, zu denen dann auch ich zähle?
***Übrigens ganz im Verbund mit dem Marketing, denn um etwas glauben zu können oder gar zu kaufen, muss man meist schon oft davon gehört haben. Im Grundberuf bin Kommunikationswissenschaftlerin und Journalistin, warum mir die Gepflogenheiten der Werbebranche wohlvertraut sind.
Ergänzend: Kein Leben ist weniger wert
Zukunftsweisend in der Krise: Visionen für sinnstiftende Karrieren – Mehr als ein halbes Hundert Erfahrungsberichte aus erster Hand über das Coaching mit DreamGuidance bei Senior Business Coach DBVC und Buchautorin Birgitt Morrien