Sexuelle Identität, eine großartige Lektion

Zielsicher. Die Autorin in Aktion.

Aus der Menge herauszutreten, anders zu sein und sich darin zu zeigen, erfordert Mut. Wer jedoch den Unterschied machen will, muss sich das trauen. Zu sich selbst zu stehen ist dafür ein guter Einstieg. Mit jeder Resonanz umzugehen, die darauf folgt, ist die nächste Übung. In diesem Sinne bietet das Coming-out Lernstoff für ein ganzes Leben.

Birgitt Morrien (58) und Karola Berlage (57) haben früh in ihrem Leben die Erfahrung gemacht, „anders“ zu sein, und so eine hohe Sensibilität für Unterschiede entwickelt. Ihre Fähigkeit, vertraute und vertrackte Dinge neu zu denken, ist auf diesem Hintergrund sehr ausgebildet. Da es den beiden Senior Beraterinnen darum geht, neue Lösungswege zu finden auch jenseits konventioneller Pfade, gelingt ihnen immer ein kreativer Ansatz. Diese Kostbarkeit ist das Ergebnis eines langen Lernprozesses in der Schule des Lebens. In dem folgenden Interview berichten sie über die „Lektionen aus dem Schulalltag“.

 

Sophie Mehlig

Wann kamst du das erste Mal mit Homosexualität in Kontakt? / Wann hast du das erste Mal davon gehört?

Birgitt: In der Schule habe ich erstmal nichts davon gehört, sondern ich habe mit 13 gemerkt, dass ich in die ältere Schwester einer Freundin verliebt war und habe das auch für mich erkannt. Ich wusste auch sofort, dass ich nicht darüber reden möchte. Um mich schlau zu machen, habe ich in einem Lexikon (ein damals schon älteres von einem katholischen Verlag) nachgeschaut und da stand drin: „Homosexualität ist eine Form der Perversion und
ist eine schwere Sünde.“ Dadurch wusste ich dann, dass ich es erstmal für mich behalten muss, weil ich nicht damit rechnen konnte eine Akzeptanz und ein Verständnis dafür zu finden.

Das war ca. 1971/72 im Münsterland, einer recht konservativen Gegend. Dennoch war mir klar, dass ich mir erlaube zu fühlen, was ich fühle und, dass ich zwar jetzt erstmal damit alleine bin, aber, dass es, wenn es mich gibt, auch auf der Erde noch eine andere geben muss, die so ist, weil ich nicht so einmalig sein kann, dass ich als einzige so empfinde. Mit 14 Jahren habe ich dann in einer Buchhandlung Bücher gefunden, z.B. Alfried Adler: „Das Problem der Homosexualität“, da der Begriff dort im Rahmen der Medizin und Psychologie vorkam, hatte ich dann den Eindruck, dass es nicht nur eine Sünde ist, sondern auch krank ist. In der Buchhandlung habe ich auch ein Buch von Charlotte Wolf gefunden, wo ich erstmals gelesen habe, dass Frauen miteinander leben und das eine Lebensform ist, die diese Autorin als positiv beschrieben hat.

Karola: Für mich war das in meiner ganzen Kindheit und Jugend kein Thema, ich hatte zwar damals keinen Freund, aber das war auch kein Problem für mich und mein Umfeld. Beim Studium in Berlin habe ich mich dann erstmal heterosexuell ausprobiert und hatte auch Freunde, aber eine Liebesbeziehung ist daraus nie entstanden. Als ich dann mit 26 J. nach Köln gezogen bin, habe ich mir immer mehr die Frage gestellt, warum man einen Freund hat, mit dem man nur immer wieder Stress hat, obwohl die Freundschaften mit den Freundinnen irgendwie viel erquickender sind.

Irgendwann war dann für mich klar, dass man gar nicht so viel von einer Beziehung mit einem Mann hat, außer dass dann alle froh sind. Ich
hatte auch ein paar Freundinnen, die lesbisch leben, und dann hat sich das für mich ganz organisch ergeben, dass mein Gefühl wichtiger ist, als dass ich angepasst lebe. Und mein Gefühl war, dass ich mit Frauen viel mehr teilen kann und Frauen auch eigentlich viel toller finde und dass es für mich viel natürlicher ist, mit einer Frau zusammen zu sein. Danach habe ich mich auch in der lesbischen Szene ein bisschen umgeschaut und meine Freundin gefunden, mit der ich jetzt hier auf dem Sofa sitze und seit 30 Jahren zusammen bin. Bzw. wir kannten uns schon zehn Jahre vorher, aber wir haben uns dann ineinander verliebt.

B: Karola hat allerdings einen Teil der Geschichte vergessen, den ich jetzt noch ergänzen werde. 1. habe ich schon 1977 geträumt, dass Karola mich küssen würde, aber davon habe ich ihr natürlich damals nicht erzählt, weil ich vermutet habe, dass es nicht so gut kommen würde. Und 1982 haben wir uns im Sommerurlaub zuhause an einem See wieder getroffen und dann auch Zeit miteinander verbracht. Und an einem Abend, als ich bei Karola übernachtet habe, haben wir auch rumgeknutscht. Also, wir waren damals schon verliebt, aber es war klar, dass wir das in dieser Zeit nicht leben können, weil Karola auch am nächsten Tag sagte: „Ach, wenn du nur ein Mann wärst.“

K: Damals war ich 22 und wollte immer noch das eine mit dem anderen verknüpfen. Die soll so toll sein wie eine Frau, aber am besten ist sie dann doch ein Mann, weil das ja akzeptierter ist. Mit 25 war ich dann weit genug meine Sichtweise zu ändern und mir zu sagen, dass ich Frauen den Platz geben kann, den ich immer für Männer reserviert hatte.

Bei wem hast du dich das erste Mal geoutet?

B: Bei meinem besten Freund, bei dem alle immer dachten, dass wir zusammen wären, was mir auch ganz recht war, weil niemand denken sollte, dass ich lesbisch bin und auch noch bei einem anderen Freund.

K: Bei meinen Freundinnen und auch Freunden. Die waren zwar alle erstmal irritiert, aber fanden das total toll und mutig und haben mich unterstützt.

Wie hat deine Familie auf dein Coming-Out reagiert?

B: Mit 17 habe ich es meiner Mutter im Doppelpack gesagt. Meine Familie war sehr religiös und legt viel Wert darauf, dass wir sonntags in die Kirche gehen. Ich habe ihr dann gesagt, dass ich nicht mehr in die Kirche gehe und dass ich lesbisch bin. Dann hat sie mir einmal eine geknallt. Das hat sie davor nie gemacht und hinterher auch nicht, aber in dem Moment war sie so geschockt über das Doppelpack, dass sie mir eine geknallt hat. Aber bei meinen Geschwistern war es kein Problem. Bei meiner Mutter hat das dann ungefähr 20 Jahre gebraucht, bis sie das so für sich akzeptieren konnte und am Ende war ihre größte Sorge Karola und ich könnten uns trennen, also da war dann ganz klar die volle Akzeptanz.

K: Ich habe es erstmal meiner Schwester erzählt, die fand es mutig und stand hinter mir. Meine Mutter musste erstmal nach Luft schnappen und sagte dann: „Oh je, oh je, du wirst es aber schwer haben. Musst du denn immer etwas Besonderes sein?“ Womit sie meinte, ob ich mich nicht einfach unterordnen kann. Danach haben wir etwas gestritten und dann ist sie eine Stunde in den Stall gegangen und als sie wiederkam war sie ganz geläutert und sagte: „Ach ja, hast schon Recht, ich brauch eigentlich auch keinen Mann mehr.“ Sie war zu diesem Zeitpunkt schon einige Jahre Witwe. Danach stand sie immer hinter mir und mein Bruder auch.

Wie haben deine Freunde auf dein Coming-Out reagiert?

B: Für meine Freunde war es überhaupt kein Problem. Von denen hatte ich auch Unterstützung und ich konnte auch immer mit denen reden, wenn ich mich verliebt hatte oder so.

K: Bei meinen Freunden auch. Diejenigen, die mich schon lange kannten, waren ein bisschen irritiert und vor allem die männlichen Freunde meinten, dass ich doch gut aussehe und esgar nicht nötig hätte, weil ich bei Männern ganz gut ankommen könnte. Die mussten sich dann ein bisschen umstellen, aber das war auch eher witzig.

Wie hast du dich gefühlt, nachdem du dich geoutet hast?

B: Ich würde von zwei Arten von Coming-Out sprechen bei mir. Das erste Coming-Out war vor den Freunden und da hatte ich nicht wirklich ein Problem mit. Ich wusste, dass die ein weites Herz und auch einen weiten Geist haben, also dass es für die kein Problem ist. Das zweite Coming-Out war dann, dass ich nicht nur Freunden gesagt habe, dass ich lesbisch bin, sondern später in meinen 20ern einfach offen war in meiner Identität und dabei war eine Hilfe, dass es in dem Ort, wo ich dann war, ein Frauenzentrum gab und auch andere Frauen, die in Frauenbeziehungen lebten. Da kriegte das erstmal auch eine „Normalität“.

K: Nach meinem Coming-Out fühlte ich mich so echt und authentisch und da ich auch Pädagogik studiert hatte, habe ich gleich mal angefangen in einer Lesben- und Schwulen-Beratung zu arbeiten. Da war ich dann eine Berufsaktivistin. Ich habe dann für die Emanzipation von Lesben und Schwulen gearbeitet, sie beraten, Schulen beraten und Schulaufklärung gemacht. Denn ich hatte begriffen, dass das enge Denken der Gesellschaft, für alle das größte Problem ist und dabei könnten doch alle so viel lernen, auch was die Akzeptanz von Unterschieden betrifft. Für mich ist das eine Lebensaufgabe geworden, die ich mit großer Leidenschaft gelebt habe und immer noch lebe bis heute.

B: Ich bin ja keine Berufsaktivistin geworden, aber ich sage z.B. immer meinen Klienten, wenn die neu zu mir kommen, dass ich mit einer Frau zusammenlebe. Hinterher kommt dann schon mal die Frage, warum ich das so offensiv kommuniziere. Dann sage ich denen, dass ich das nicht offensiv kommuniziere, sondern einfach genauso wie mein Partner, der erwähnt, dass seine Frau irgendetwas gemacht hat, gebe ich es so nebenbei mit rein, aber es wirkt offensiv.

Klar ist, dadurch, dass ich die Erfahrung von „anders“ sein sehr früh gemacht habe und mich einfach darin bewegen musste, habe ich eine hohe Sensibilität für Unterschiede entwickelt und wenn wir hier im Coaching arbeiten, geht es immer darum, noch andere Wege zu finden als die konventionellen und dieses Denken ist bei mir natürlich extrem geschult. Damit hat man immer einen kreativen Ansatz, was eine Kostbarkeit ist.

K: Es prägt das ganze Denken, es macht es einfach grundsätzlich weiter. Welche Erfahrungen hast du auf der Arbeit bezüglich deiner sexuellen Orientierung gemacht?

B: Ich vermittle meine Identität immer auch als ein Plus, wie ich vorhin schon erklärt habe. Ich denke, dass es grundsätzlich nicht mehr Vorbehalte gibt, auch unter den Coach-Kollegen, die bewundern eher, dass ich so offen damit umgehe, weil in der Geschäftswelt oft eine gewisse Ängstlichkeit besteht anders zu sein, aber für mich ist es ein Gewinn.

K: Ich habe das ja erstmal beruflich gemacht. Heute bin ich Therapeutin und Supervisorin und ich habe auch einige, die zu mir kommen, weil ich lesbisch geschult bin, und die anderen kriegen das auch mitgeteilt und haben da meist auch keine Probleme mit. Wenn jemand Probleme damit hat, ist es immer eine gute Gelegenheit ganz offensiv darüber zu sprechen, weil ich so geschult darin bin, dass ich weiß, wo wer welche Ängste hat und die überall auch abholen kann und es denen auch etwas näherbringen kann.

Welche Unterschiede siehst du zwischen damals (als du aufgewachsen bist) und heute?

K: Ich fühle mich viel selbstbestimmter und freier in meiner Lebensgestaltung und einfach glücklich darin.

B: Ich fühle mich nach wie vor besonders, ich fühle mich so, wie sich wahrscheinlich Prominente oft fühlen. Ich gehe durch die Stadt und immer wieder bekomme ich bestimmte Blicke und ich weiß natürlich, dass ich die nicht bekomme, weil ich prominent bin, sondern, weil ich mich einfach in meinem gesamten Look unterscheide, also eine „queere“ Persönlichkeit bin, also eine, die unterschiedliche Aspekte mehrerer Gender beinhaltet. In jedem Fall bin ich nicht so leicht zuordenbar und sorge damit für Irritation und die Irritation führt idealerweise auch dazu, dass jemand nachdenkt.

Bei ängstlichen Persönlichkeiten, kann mein Auftreten aber auch zu einer Abwehr, bis hin zu einer Aggression, führen und das nehme ich auch wahr. Damit weiß ich, dass die Aufgabe bleibt, auch wenn wir jetzt gesetzliche Gleichstellung haben, wachsam zu bleiben. Karola und ich sitzen hier in diesem Haus auf diesem Sofa, wir sind die erste Generation, die überhaupt zusammenleben und heiraten konnte. Und das ist mir sehr bewusst und da bin ich auch sehr dankbar, denn für meine Mutter, selbst wenn sie es gewollt hätte, wäre das gar nicht denkbar gewesen.

Was würdest du dir von der Gesellschaft wünschen?

K: Ich würde mir wünschen, dass die heterosexuellen Menschen, die sich so „normal“ fühlen, sich genauso viele Gedanken darüber machen, warum sie mit dem anderen Geschlecht leben und dass sie einem auch ganz viel erklären, warum sie so und nicht anders leben, so wie wir das immer tun müssen. Die Infragestellung nervt nämlich, weil die immer von einer gesetzten Norm ausgeht. Weil das macht erst Diversity aus, dass man nicht davon ausgeht, dass das die Norm ist und alles, was abweicht, sich erklären muss, sondern Diversity heißt, dass wir alle auch unterschiedlich sind und alles seinen eigen Wert hat.

B: Als Ergänzung noch der Wunsch, dass unterschiedliche Lebensentwürfe als Anregung erkannt werden, dass was man als „normal“ kennt mal anders zu sehen.

Was würdest du gerne zu jungen LGBT-Personen sagen?

B: Zunächst mal den Mut wahrzunehmen, was ich empfinde, und das zuzulassen und entwickeln zu können und sich mit anderen zu vernetzen, um eine Selbstverständlichkeit in dieser Identität entwickeln zu können. Und auch das Wissen darum, dass das zu leben eine gewisse Aufgabe in sich bergen kann, nämlich die, eine Gesellschaft zu bereichern.

K: Traut euch zu sein und nehmt euch an, denn ihr seid ein wichtiger Bestandteil in der Entwicklung unserer Kultur.

 

Die Autorin: Sophie Mehlig (@Instagram)
Interessierten stellt sie ihre Arbeit gern kostenlos als Download bereit. Über ein Feedback (@Twitter) würde sie sich freuen.
 

Mehr Informationen: Live-Coaching vor der Kamera, spirituelle Kompetenz & sinnstiftende Karrieren

Kontakt zu den beiden Senior Coaches:
Karola Berlage: kontakt@karolaberlage.de
Birgitt Morrien: contact@cop-coaching.com

 

 

Schreibe einen Kommentar