Morgen ist Morgen. Ein jüdisches Märchen aus Afghanistan
In der Hauptstadt seines Landes lebte einmal ein guter und gerechter König. Oft verkleidete er sich und ging unerkannt durch die Straßen um zu erfahren, wie es mit seinem Volk stand. Eines Abends geht er vor die Tore der Stadt. Er sieht aus einer Hütte einen Lichtschein fallen und erkennt durch das Fenster: ein Mann, offenbar ein Jude, sitzt an seinem zur Mahlzeit bereitetem Tisch und ist gerade dabei, den Lobpreis zu Gott über das Mahl zu singen. Als er geendet hat, klopft der König an die Tür: 'Darf ein Gast eintreten?' 'Gerne', sagt der Mann, 'halte mit, mein Mahl reicht für uns beide.'
Während des Mahles sprechen die beiden über dieses und jenes. Der König – unerkannt – fragt: 'Wovon lebst du? Was ist dein Gewerbe?' 'Ich bin Flickschuster', antwortet der Mann. 'Jeden morgen gehe ich mit meinem Handwerkskasten durch die Stadt, und die Leute bringen mir ihre Schuhe zum Flicken auf die Straße.' Der König: 'Und was wird morgen sein, wenn du keine Arbeit bekommst?' 'Morgen?', sagt der Flickschuster, 'morgen? Gott sei gepriesen Tag für Tag!' Als der Flickschuster am anderen Tag in die Stadt geht, sieht er überall angeschlagen:
Befehl des Königs: In dieser Woche ist auf den Straßen meiner Stadt jede Flickschusterei verboten! Sonderbar, denkt der Schuster. Was doch die Könige für seltsame Einfälle haben. Nun, dann werde ich heute Wasser tragen; Wasser brauchen die Leute jeden Tag. Am Abend hat er so viel verdient, daß es für beide zur Mahlzeit reicht. Der König, wieder zu Gast, sagt: 'Ich hatte schon Sorge um dich, als ich die Anschläge des Königs las. Wie hast du dennoch dein Geld verdienen können?' Der Schuster gibt Bescheid. Der König: 'Und was wird morgen sein, wenn du keine Arbeit findest?'
'Morgen? Gott sei gepriesen Tag um Tag.' Als der Schuster am anderen Tag in die Stadt geht, um wieder Wasser zu tragen, kommen ihm Herolde entgegen, die rufen: 'Befehl des Königs: Wassertragen dürfen nur solche, die eine Erlaubnis des Königs haben!' Sonderbar, denkt der Schuster, was die Könige für seltsame Einfälle haben. Nun, dann werde ich Holz zerkleinern und in die Häuser bringen. Er holt seine Axt und am Abend hat er so viel verdient, daß das Mahl für beide wieder bereitet ist. Und wieder fragt der König: 'Und was wird morgen sein, wenn du keine Arbeit findest?'
'Morgen? Gott sei gepriesen Tag um Tag!' Am anderen Morgen kommt dem Flickschuster in der Stadt ein Trupp Soldaten entgegen. Der Hauptmann sagt: 'Du hast eine Axt, du mußt heute im Palasthof des Königs Wache stehen. Hier hast du ein Schwert.' Nun muß der Flickschuster den ganzen Tag Wache stehen und verdient keinen Pfennig. Abends geht er zu seinem Krämer und sagt: 'Heute habe ich nichts verdienen können. Aber ich habe heute Abend einen Gast. Ich gebe dir das Schwert als Pfand – gib mir, was ich zum Mahl brauche.'
Als er nach Hause kommt, geht er zuerst in seine Werkstatt und fertigt ein Holzschwert, das genau in die Schwerthülle paßt. Der König wundert sich, daß auch an diesem Abend wieder das Mahl bereitet ist. Der Schuster erzählt alles und zeigt dem König verschmitzt das Holzschwert. 'Und was wird morgen sein, wenn der Hauptmann die Schwerter inspiziert?' 'Morgen? Gott sei gepriesen Tag und Tag!' Als der Schuster am anderen Morgen den Palasthof betritt, kommt ihm der Hauptmann entgegen, an der Hand einen gefesselten Gefangenen: 'Das ist ein Mörder. Den mußt du hinrichten!'
'Das kann ich nicht', ruft der Jude voll Schrecken aus. 'Ich kann keinen Menschen töten.' 'Doch, du mußt es, es ist Befehl des Königs.' Inzwischen hat sich der Palasthof mit vielen Neugierigen gefüllt, die die Hinrichtung eines Mörders sehen wollen. Der Schuster schaut in die Augen des Gefangenen. Ist das ein Mörder? Dann wirft er sich auf die Knie und mit lauter Stimme, so daß alle ihn beten hören, ruft er: 'Gott, Du König des Himmels und der Erde: wenn dieser Mensch ein Mörder ist und ich ihn hinrichten soll, dann laß mein Schwert aus Stahl in der Sonne blitzen! Wenn dieser Mensch aber kein Mörder ist, dann mache, daß mein Schwert aus Holz ist.'
Alle Menschen schauen atemlos zu ihm hin. Er zieht das Schwert, hält es hoch – und siehe: Es ist aus Holz. Ein gewaltiger Jubel bricht aus. In diesem Augenblick kommt der König von der Freitreppe seines Palastes, geht geradewegs auf den Flickschuster zu, gibt sich zu erkennen, umarmt ihn und sagt: 'Von heute an sollst du mein Ratgeber sein.
Quelle. Bours, Johannes: Der Mensch wird des Weges geführt, den er wählt. Freiburg: Herder 1996, S. 60 – 63
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