Tief berührt. Die Würdigung eines Augenblicks
Ich sah ihn im letzten Moment und hielt dann gleich an. „Hallo, Murman*", rief ich. Beinah erschrocken wandte er sich mir zu, wie aus tiefen Gedanken herausgerissen.
„Hallo", gab er zurück und schien sich noch einen Moment sammeln zu müssen, bis sich ihm erschloss, woher er mich kennt. Von nebenan, schwante es ihm, und sein Gesicht strahlte auf.
Wir winken uns seit mehr als zehn Jahren über den Gartenzaun zu. Sprechen auch miteinander. Bruchstückhaft, denn er spricht kaum Deutsch und wir kein Türkisch. Aber zum Verschenken von Äpfeln im Herbst oder von Leckereien am Ende des Ramadan reicht es allemal. Unsere Nachbarschaft ist gut.
Kürzlich bin ich erstmalig zu ihm nach Hause gegangen, um seiner Frau Blumen zu bringen. Dafür musste ich einen Umweg gehen. Einmal um den Block, um über die Straße zu seiner Haustür zu gelangen. Über den Zaun fliegen nur die Bälle der Kinder. Hinüber steigt niemand. Dafür ist er zu hoch.
Bei einem unserer Zaungespräche hatten wir von ihm erfahren, dass seine Frau schwer krank sei. Die beiden Töchter, die unten bei den beiden Alten im Haus wohnen, konnten dies später in exzellentem Deutsch bestätigen. Sie unterrichten an deutschen Schulen.
Außerhalb des unmittelbaren Miteinanders über den Zaun erkennt er uns kaum. Es ist wie eine andere Welt, die der Straße, wo das Sichkennen nach anderen Gesetzen verläuft. Durch den Schleier der Fremde erkennt er mich erst im zweiten Augenblick und entschuldigt sich prompt dafür.
„Wie geht es deiner Frau?" frage ich. Er weist auf seine Ohren. „Nix mehr", sagt er. „Kann nix mehr". Nichts mehr hören, verstehe ich sofort. Es ist still um sie geworden.
Mit einer ausladenden Geste, die jeden Laut abzuwehren scheint, deutet er an, dass es auch so bleiben wird: still.
Sie wird gehen, bald ganz, doch sie geht in Etappen. Wie durch ein altes Haus, in dem sie nach und nach das Licht in jedem Zimmer ausschaltet, bis es ganz dunkel ist. Und am Ende bleibt sie dort, wo die Nacht ihr Zuhause hat. Murman begleitet seine Frau auf dem Weg dorthin durch all diese Zimmer. Murman geht sehr langsam, denn seine Frau trägt schwer an sich. Er schmiegt sich ihren Schritten an. Langsam. Kaum kommen sie voran. Und doch ist es ganz gewiss, dass sie ihr Ziel erreichen werden.
„Wohin?" fragt er mich unvermittelt, und ich wache auf aus einem Mitgefühl, in das ich gerade eintauchen wollte. „Ach", sage ich und zeige zur Eisdiele am Ende der Straße. „Einen Kaffee trinken!"
„Komm", sagt er und winkt mir zu, ihm zu folgen. Plötzlich wirkt der Alte fast jung, wie er energischen Schrittes über das Trottoir eilt und ich mein Rad neben ihm her schiebe. Schon ist er in der Eisdiele verschwunden – und ich ihm nach. „Kaffee", ruft er der Bedienung zu. Er will mich einladen.
Schließlich sitzen wir zu dritt da: Meine Frau ist noch dazugestoßen, mit der ich mich dort zur Kaffeepause verabredet hatte. Und bei einem exzellenten Espresso stolpern wir durch unser kleines Gespräch. Die Tochter habe sich zwei Rippen gebrochen, erfahren wir noch, und er werde in der nächsten Woche mit einem Leistenbruch ins Krankenhaus kommen. Sagt das, nippt an seinem Kaffee und strahlt: „Gut, sehr gut!" Und will wissen, was wir machen, beruflich machen. Es lässt sich vermitteln. Therapeutin meine Frau, ich Coach, gemeinsam in geteilter Praxis. Und was er gemacht hat, erfahren wir auch. Als Rangierer bei der Bahn gearbeitet – 20 Jahre lang.
Die bange Sorge einer ganzen Woche wegen knapper Abgabefristen für ein großes Projekt löst sich augenblicklich in Wohlgefallen auf. Ich sitze da und bin ganz eingefangen von der Freude am unverhofften Miteinander. Und von der quiekenden Lebendigkeit, die 55 Erstklässler_innen verbreiten, außer sich vor Begeisterung über eine Kugel Eis im Hörnchen. Ich fühle mich tief berührt. Irgendwie glücklich.
Erstveröffentlichung im Coaching-Blogger am 12.04.2014. Wiederholte Veröffentlichung anlässlich des Todes von Morriens türkischer Nachbarin.
*Murman. Ein fiktiver Name inspiriert durch die gleichnamige "Coast of Hope"