Eine Ärztin macht sich im Schock auf die Suche nach ihrem seit Jahren verschollenen Liebhaber. Unterwegs trifft sie am Rande einer Straße auf einen älteren Mediziner, der ihr Tuina aus China vorstellt und damit eine Wende einleitet.
Der Fehler*
„Wie gelangt man zu Weisheit, Scharfsinn und Verständnis?“
„Durch gesunden Menschenverstand und ein gutes Urteilsvermögen.“
„Und wie erlangt man gutes Urteilsvermögen?“
„Durch viel Erfahrung.“
„Und wie sammelt man viel Erfahrung?“
„Durch Fehlurteile!“
Die Reise
Ich sollte schwer krank sein. Die Diagnose lautete Verdacht auf Krebs. Ein Schock. Plötzlich schien es mir kein Problem, meine Arztpraxis einer erst kurz zuvor eingestellten Mitarbeiterin anzuvertrauen. Wo ich mich jahrelang für absolut unabkömmlich gehalten hatte, gelang es mir nun, mich sogar ganz aus der Verantwortung zu nehmen.
Ich lebte damals allein und beschloss, noch vor meiner OP nach Süddeutschland zu fahren, um einen Mann zu suchen, den ich einmal sehr geliebt hatte, nach unserer Trennung aber vollkommen aus den Augen verloren. Es gab nur einen vagen Anhalt: Seine letzte mir bekannte Adresse in einem kleinen Dorf. Danach verschwand seine Spur. Sein Name war über keine Auskunftei zu finden.
Familie und Freunde rieten mir dringend, doch besser zu Hause zu bleiben und mich zu schonen. Es sei ganz sicher ein Fehler, mich vor einem solchen Eingriff noch den Strapazen dieser Reise zu unterziehen. Aber mein Entschluss stand fest, und ich machte mich mit meinem neuen Wagen auf den Weg.
Unterwegs sein tat mir gut. Erinnerungen tauchten auf aus der Monotonie eines Surrens, das der Asphalt die Räder anstimmen ließ. Ich summte leise mit und überließ mich den Strömen, die da in mir aufbrachen. Gesichter, die ich lange vergessen glaubte, standen lebhaft vor mir und sprachen mich an. Fast so, als ob sie sich beschweren wollten, mich erst jetzt wieder zu sehen.
Auf dieser langen Fahrt einmal quer durch Deutschland traf ich an verschiedenen Raststätten bei meinen Pausen immer wieder zufällig auf einen älteren Herrn, mir durchaus sympathisch. Beim dritten Mal faßte ich mir ein Herz und sprach ihn an, und wir kamen miteinander ins Gespräch.
Er war selbst praktizierender Arzt, hatte sich aber schon früh aus der klassischen Schulmedizin zurück gezogen zu Gunsten ganzheitlicher therapeutischer Konzepte, allen voran der chinesischen Medizin. Er sei den Weg des Vertrauens gegangen, wie er lächelnd meinte, mit einem in den frühen Siebzigern noch nicht etablierten Angebot auch angenommen zu werden.
Insbesondere „Tuina“ hatte es mir sofort angetan, eine Art Manuelle Therapie, die er mir als einen wichtigen Bestandteil der chinesischen Medizin vorstellte. Archäologische Funde aus der Zeit 2700 v.u.Z. aus dem Tal des Huang He deuteten auf eine Nutzung von Massagetechniken hin, erklärte er mir. Inzwischen habe sich daraus eine fein differenzierte Behandlungsmethodik entwickelt, die vielseitig anwendbar sei, etwa auch etwa bei gynäkologischen Beschwerden.
Als krebskrankverdächtige Frauenärztin war es dieser Punkt, an dem ich Vertrauen zu diesem fremden Mann fasste, kollegial und persönlich. Es schien mir plötzlich, als trete erstmalig seit der Konfrontation mit dem Krebsverdacht wieder Zuversicht in mein Leben. Es war mir, als ob mich ein wärmender Strahl durchzuckte, einfach indem ich diesen Menschen von Möglichkeiten der Berührung als medizinischer Behandlung sprechen hörte.
So ginge es auch seinen Studenten, schmunzelte er, als ich ihm meine Begeisterung mitteilte. Als Gastprofessor lehre er inzwischen auch an einer privaten Universität im Rahmen eines Aufbaustudienganges Traditionelle Chinesische Medizin**. Von solchen Entwicklungen hatte ich bisher kaum Notiz genommen, eingesponnen in die ganz alltägliche Überforderung meiner Praxis. Das Interesse aber war unwiderruflich geweckt, und wir vereinbarten, uns nach meiner OP wieder zu treffen.
Der Abschied fiel mir nur leicht, weil mich die Aussicht eines Wiedersehens mit diesem neu entdeckten Kollegen freute. Und ich ertappte mich dabei, in Kategorien von Zukunft zu denken, als ob ich im Augenblick beschlossen hätte, auf jeden Fall weiter zu leben und daran aus irgend einem Grund plötzlich glaubte. Zugleich fühlte ich mich wie verlassen, weil ich diesen Mann und sein Lebensanliegen binnen einer Stunde tief in mein Herz geschlossen hatte.
Die Fahrt endete im Übrigen wenig erbaulich. Die ländlichen Hotels waren mäßig, die Leute nett, aber einfallslos und darum wenig hilfreich und so blieb der Gesuchte verschollen. Was ich von meiner Reise mit brachte war die Visitenkarte eines älteren Herrn. Meine Freunde lächelten nachsichtig und schienen heimlich für sich zu reklamieren, mit ihrer Vorwarnung schließlich doch recht gehabt zu haben. Von chinesischer Medizin waren sie wenig zu begeistern.
Schließlich nahte der Zeitpunkt meiner OP, und ich schaffte ein wenig Ruhe vor dem ungewissen Eingriff in mir, indem ich die Atmosphäre des Gesprächs zu „Tuina“ wieder in mir wach rief. Dann erinnere ich mich daran, nach der OP wieder wach geworden zu sein und an die plötzliche Gewissheit, gesund zu sein, in jedem Fall wieder zu werden. Und mein Gefühl sollte mich täuschen: Der Krebsverdacht hatte sich nicht erhärtet, es waren doch „nur“ Myome gewesen, die entfernt werden mußten.
Meine Erleichterung war maßlos. Es war, als sei mir das Leben neu geschenkt worden. Und ich beschloß, mein Leben neu zu gestalten. „Tuina“ war dabei eine entscheidende Wegweiserin. Über meinen Reisebekannten hatte sich mir der Blick für ganz neue Möglichkeiten in Medizin geöffnet. Ich ließ mich berufsbegleitend in „Tuina“ fortbilden und setze diese Form der Manuellen Therapie mittlerweile mit Erfolg in meiner eigenen Praxis ein. Zur Freude meiner Patientinnen und zu meiner eigenen Freude.
Hinweise:
*"Der Fehler" wird ohne diesen von mir gewählten Titel Rabbi Salman Schachter Schachter-Salomi zugeschrieben. Zitiert nach: "Der Rabbi hat immer recht. Die Kunst, Probleme zu lösen" von Rabbi Nilton Bonder.
**TCM / Traditionelle Chinesische Medizin ist ein deutschlandweit einmaliger Aufbaustudiengang an der privaten Universität Witten-Herdecke.