Ein Besuch beim Betriebsarzt. Kasachische Geschichten, Teil 1

Bericht einer deutschen Journalistin, die in der ehemaligen UdSSR für die "Deutsche Allgemeine, Zeitung der Russlanddeutschen" arbeitete und sich erlaubte zu erkranken. Oder: Von den Besonderheiten interkultureller Kommunikation auf der Schnittsstelle von Komik & Tragik.

 

Sylvia Greßler:

Im Februar 1991 reiste ich nach Kasachstan, um dort für zwei Jahre als Journalistin für die „Deutsche Allgemeine, Zeitung der Russlanddeutschen“, die deutschsprachige Wochenzeitung in Zentralasien, zu arbeiten. Noch einige Wochen vor meiner Ankunft hatte sie den bis heute wesentlich bekannteren Namen „Freundschaft“ getragen. Die Leser lebten zum größten Teil in Kasachstan, Sibirien und im Ural, später erreichten mich aber auch regelmäßig Leserbriefe von Aussiedlern aus Deutschland.

Das aufgrund vielerlei Hindernisse mehr als stressige Reiseunterfangen von Bergisch Gladbach nach Alma-Ata – die Anreise hatte sich über mehr als eine Woche hingezogen – sowie die tiefen Minusgrade und den starken Steppenwind in Kasachstan quittierte mein Körper mit einer heftigen Erkältung. Entsprechende Medizin hatte ich nicht aus Deutschland mitgenommen, und die wenigen kasachischen und sowjetischen Medikamente waren mir allesamt unbekannt, deshalb traute ich mich nicht, sie einzunehmen. So kam es, dass ich schon nach kurzer Zeit wegen hohem Fieber und starken Kopfschmerzen bei der Arbeit fehlen musste. Ich meldete mich in der Redaktion krank, woraufhin eine Kollegin mir erklärte, dass ich den für mich zuständigen Betriebsarzt aufsuchen müsse. Also schleppte ich mich mit glühendem Gesicht und bleiernem Druck in Stirn, Nase und rund um die Augen dorthin. An dem Morgen herrschte eisige Kälte auf der Straße, mein Bus quoll wie üblich über von Menschen, überall hustete und schniefte es.

 

Kollektives Fiebermessen

Endlich in der Redaktion angekommen, führte man mich in ein Nebengebäude des Pressehauses. In einem hellgrün getünchten Korridor saßen zusammengekauert auf zwei langen Bänken entlang der Wände die Patienten. Ich quetschte mich zwischen sie und harrte der Dinge, die da auf mich zukommen würden. Ich überlegte, ob wohl meine Russischkenntnisse ausreichen würden, meine Beschwerden adäquat zu schildern, und vor allem, ob ich die Anweisungen des Arztes verstehen könnte.

Während ich mir im Geiste einige passende Vokabeln zurechtlegte, öffnete sich die Tür des Behandlungszimmers, und heraus kam eine junge Kasachin in einem schmutzigen weißen Kittel mit einem Gefäß, in dem eine Unzahl Fieberthermometer steckte. Sie ging die beiden Patientenreihen ab, und jeder griff hinein, um sich ein Fiebermessgerät herauszunehmen und unter die Achseln zu klemmen. Erstaunt verfolgte ich das Geschehen, und als die Reihe an mir war, tat ich es meinen Vorgängern gleich. Nach etwa fünf Minuten erschien die Arzthelferin erneut, und zu meiner großen Verwunderung sammelte sie die Thermometer wieder ein und legte sie bunt durcheinander allesamt in das Gefäß zurück.

 

Zweifelhafte Diagnose

Als ich nun ins Arztzimmer hineindurfte, fragte mich der Doktor, der sich als eine kasachische Ärztin entpuppte, was mir fehle. Ich klagte über Fieber. Worauf ich jedoch zu hören bekam: „Nein, das Fieber ist gar nicht zu hoch, ich habe Ihr Thermometer abgelesen.“ Ich guckte die Dame in dem schmuddeligen Kittel vor mir verblüfft an, vergaß vor Entsetzen ob dieser absurden Behandlung die parat gelegten russischen Vokabeln und vernahm weiter, dass ich bald wieder arbeiten gehen könne, da nichts Schlimmes an mir zu erkennen sei, ich sogar eine frische Gesichtsfarbe hätte – aber eine gynäkologische Untersuchung würde bei mir sicher eher sinnvoll sein. Dabei wies die Ärztin, oder was es war, auf einen entsprechenden Untersuchungsstuhl im Nebenzimmer, dessen Anblick mein Blut in den Adern erstarren ließ. Hastig stand ich auf, schüttelte meinem Gegenüber die Hand und stürzte aus dem Raum.

 

In letzter Minute

Meine Erkältung entwickelte sich leider zu einer schweren Entzündung der Nasennebenhöhlen, die in einer Blutvergiftung endete und dann buchstäblich nur noch in letzter Minute in Deutschland behandelt werden konnte.

So war ich also unversehens Opfer der katastrophalen kasachischen Zustände auf dem medizinischen Sektor (und nicht nur dort) geworden. Seit dem Zerfall der UdSSR 1987 hatte ein massenhafter Exodus von russischen Spezialisten nach Russland eingesetzt, denn die Fachleute befürchteten interethnische Konflikte. Ein Merkmal Moskauer Kolonialpolitik hatte darin bestanden, Hochschulen in Russland stärker zu fördern als die in den anderen Sowjetrepubliken. Mit dem Ergebnis, dass sich alle potenziellen Studenten des Sowjetreiches um einen Studienplatz in Russland bewarben. Dort gab man den russischen Bewerbungen systematisch den Vorrang. Somit bekleideten in Kasachstan vor allem Russen die Mehrzahl der Positionen, für die ein Universitätsabschluss Voraussetzung war. 1991 fehlte es in Kasachstan dann an sämtlichem Fachpersonal, das man kurzerhand mit Kasachen ohne eine entsprechende Ausbildung ersetzte.

Ob die Betriebsärztin also tatsächlich Ärztin war? Zweifel scheinen angebracht.

3 Gedanken zu “Ein Besuch beim Betriebsarzt. Kasachische Geschichten, Teil 1

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